Netto-Null-CO2-Portfolios: reine Illusion?

0

Inmitten der unzähligen zweifelhaften „Netto-Null“-Behauptungen der Industrie schlägt Finance Watch konkrete politische Maßnahmen vor, um dem Konzept von Netto-Null-Emissionen Gewicht zu geben. Dann könnte das Konzept dabei helfen Netto-Null in der realen Welt zu erreichen und die Einflussmöglichkeiten des Finanzsektors zur Dekarbonisierung der Realwirtschaft nutzen.

 

Während Total Energies 10 Milliarden Dollar in ein neues Ölfeldprojekt in Uganda investiert,[1] hat der norwegische Ölriese Equinor die Genehmigung erhalten, vor der Küste der Bay du Nord mit Bohrungen zu beginnen.[2] Beide Mineralölkonzerne behaupten, auf „Netto-Null“ ausgerichtet zu sein, während ihre Aktivitäten den Zielen der Internationalen Energieagentur zuwiderlaufen, die erklärt hat, dass alle neuen Investitionen in fossile Brennstoffe sofort gestoppt werden müssen, um bis 2050 Netto-Null zu erreichen.

Die Notwendigkeit einer progressiven Definition des Netto-Null-Konzepts

Beide Unternehmen rechtfertigen diese neuen Projekte mit derselben Aussage: Sie gehen davon aus, dass sie mit dem Wachstum ihres Unternehmens künftig in weniger kohlenstoffintensive Aktivitäten investieren werden. Sie zählen dies jedoch schon jetzt als „verringerte Emissionen“, obwohl die absoluten Emissionen insgesamt weiter steigen.

Dieses Beispiel kreativer Buchführung ermöglicht es den Energieunternehmen und Finanziers von Projekten für fossile Brennstoffe zu behaupten, dass mehr absolute Treibhausgasemissionen irgendwie mit einer klimaneutralen Wirtschaft vereinbar sind.

Und bei genauerem Blick (Finance Watch hat das für Sie getan, lesen Sie unseren neuen Bericht) fallen weitere Bilanzierungstricks auf, z.B. die Nichtberücksichtigung von Scope-3-Emissionen, die Anrechnung von Kohlenstoffkompensationen und die Einbeziehung „vermiedener“ Emissionen. Dies führt zu verwirrenden und irreführenden Behauptungen über eine angebliche Netto-Null-Position und macht das Konzept unwirksam. All das während das Kohlenstoffbudget des Planeten bis 2030 erschöpft sein könnte.

Es gibt keine Zeit zum Zögern, da die gesamten absoluten Emissionen der Realwirtschaft sofort reduziert werden müssen.

Bild: „Kreative Buchführung bedroht die Glaubwürdigkeit von Netto-Null-Zusagen“. Mehr Cartoons von Finance Watch

Die Dekarbonisierung von Finanzportfolios wird die Realwirtschaft nicht dekarbonisieren

Die Akteure des Finanzsektors haben einen Flickenteppich von Netto-Null-Allianzen gebildet, darunter NZAOA, NZAMI, NZBA, NZIA, NZICI, NZFSPA und GFANZ. Diese Allianzen versuchen, Finanzportfolios mit einer ganzen Reihe von (zweifelhaften) Methoden zu dekarbonisieren. Wir argumentieren jedoch, dass es aus technischen Gründen eine strukturelle Grenze dafür gibt, was der Finanzsektor auf diese Weise erreichen kann:

  • Nicht klimabewusste Investoren profitieren noch immer von der Tragik der Zeithorizonte, wie von Mark Carney im Jahr 2015 beschrieben. Neben Finanzinstituten, die den Netto-Null-Status für sich beanspruchen, gibt es andere Marktteilnehmer, die den CO2-Fußabdruck ihrer Investitionen ignorieren und sich um ESG überhaupt keine Gedanken machen. Diese Zyniker profitieren von kurzfristigen Cashflows, die durch kohlenstoffintensive Investments generiert werden, und sind gleichzeitig von ihrer vermeintlich „überlegenen Fähigkeit“ überzeugt, Markttrends zu antizipieren, von denen sie glauben, dass sie sich rechtzeitig trennen können, wenn der Klimazusammenbruch weitergeht.
  • Da das Kapital der Wirtschaft folgt, wird das Ersetzen von investierten Unternehmen mit höheren Treibhausgasemissionen durch Unternehmen mit niedrigeren Treibhausgasemissionen zu immer größeren Tracking Errors führen, die von Investmentprofis wahrscheinlich nicht akzeptiert werden. Ganz nebenbei birgt dies auch das Risiko, dass gefährliche grüne Vermögensblasen entstehen.
  • Banken und Versicherungen haben starke Anreize, ihren Marktanteil und ihre Eigenkapitalrendite aufrechtzuerhalten, weshalb sie nicht bereit sind, das derzeitige Finanzierungsniveau für rentable, aber kohlenstoffintensive Aktivitäten zu senken.

Dies zeigt die Grenzen der Dekarbonisierung von Portfolios auf. Interessanterweise äußert der SBTi in seinem Leitfaden für wissenschaftsbasierte Ziele für den Finanzsektor dieselben Zweifel – „der SBTi erkennt an, dass es an Klarheit darüber mangelt, welche Maßnahmen von Finanzinstituten zu Treibhausgasemissionen in der Realwirtschaft führen könnten“. Damit werden auf diplomatische Weise starke Zweifel daran geäußert, dass die Dekarbonisierung von Portfolios zu einer Dekarbonisierung der realen Welt führen kann. Früher oder später werden derartige Bemühungen, Mainstream-Investments von einer treibhausgasabhängigen Wirtschaft abzukoppeln, an ihre Grenzen stoßen.

Die Macht des Geldes – Wie können Investoren den Übergang zu Netto-Null unterstützen?

Wenn die Dekarbonisierung von Portfolios keinen wirklichen Unterschied macht, steht Investoren ein weiteres Instrument zur Verfügung – die Macht der Verantwortung. Anteilseigner können durch ihr Engagement als Aktionäre Einfluss auf Nicht-Finanzunternehmen nehmen, während Kreditgeber, Versicherer und Privatinvestoren Unternehmen beeinflussen können, indem sie ihnen Bedingungen und „Auflagen“ für ihre Finanzierung auferlegen.

Auf verschiedenen Märkten haben Teilnehmer seit langem Finanzierungsauflagen festgelegt, um ihre Interessen zu schützen. Dies sollte um Klimaklauseln erweitert werden, die für alle Finanzinstitute, die einen ESG-, klimaorientierten oder Netto-Null-Status beanspruchen, obligatorisch wären. Das würde die Finanzierung systematisch von der Annahme und Durchführung des Übergangsplans eines Kunden abhängig machen.

Die Zusatzklauseln würden es dem Finanzinstitut ermöglichen, Druck auf das finanzierte Unternehmen auszuüben (z.B. durch Erhöhung der Kosten für das bereitgestellte Kapital, Einstellung der Finanzierung usw.). Die Anreize und Zwänge, die ein solcher Mechanismus bieten könnte, würden den Übergang zu Netto-Null-Emissionen zu einer sofortigen Priorität machen und die Fähigkeit der Finanzinstitute, zur Dekarbonisierung der Realwirtschaft beizutragen, entscheidend verändern. Nur dann wäre die Behauptung von Kapitalgebern, zu einem Netto-Null-Umstieg in der Realwirtschaft beizutragen, nachweisbar.

Die Rolle der Aufsichtsbehörden bei der Standardisierung und Durchsetzung von Netto-Null-Plänen

Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, dass die bestehenden Pflichten der Aufsichtsbehörden in Bezug auf Offenlegung auf klimabezogene Informationen ausgeweitet werden, sowohl um Anleger vor der derzeitigen Verwirrung über Netto-Null zu schützen als auch um erhebliche klimabezogene finanzielle Risiken zu vermeiden.

Für Nicht-Finanzunternehmen werden die Aufsichtsbehörden neue Befugnisse benötigen, um sicherzustellen, dass Unternehmen korrekte Informationen bereitstellen. Dies meint, dass Unternehmen die absoluten Treibhausgasemissionen zählen und nicht den hypothetischen Kohlenstoffabbau, Kohlenstoffkompensationen oder vermiedene Emissionen.

Außerdem müssen sie befugt werden, von Nicht-Finanzunternehmen zu verlangen, dass sie die Übergangspfade offenlegen, die sie zur Erstellung ihrer Pläne verwendet haben, einschließlich Zwischenzielen alle fünf Jahre bis 2050, und Sanktionen gegen Unternehmen zu verhängen, die diese Pläne nicht einhalten.

Für Finanzunternehmen werden die Aufsichtsbehörden Kompetenzen benötigen, um Finanzdienstleistungen durchzusetzen, die einen ESG-, klimaorientierten oder Netto-Null-Status geltend machen. Diese müssen vollständig mit der Taxonomie übereinstimmen, einen soliden Engagementplan beinhalten oder geeignete Klimaklauseln umfassen. Schließlich müssen die Aufsichtsbehörden die Qualität, die Art und die Dauer vonCO2-Kompensationstechniken kontrollieren, um eine Doppelzählung von Emissionszertifikaten zu vermeiden, und die Zulassung der Zertifizierer verwalten.

Unsere detaillierten Politikempfehlungen finden Sie in der Zusammenfassung unseres neuen Berichts.

Fazit

Es bleiben nur noch wenige Jahre, um die CO2-Konzentration in der Atmosphäre auf einem sicheren Niveau zu stabilisieren, doch die Weltwirtschaft ist nach wie vor stark von Treibhausgasen abhängig. Lockere Definitionen von Netto-Null oder unrealistische Hoffnungen auf Portfolio-Dekarbonisierung führen lediglich dazu, dass wir wertvolle Zeit verlieren. Finance Watch fordert die europäischen Entscheidungsträger auf, die Ambitionen der Agenda für nachhaltige Finanzen deutlich zu erhöhen, indem sie dem Netto-Null-Ziel seine Bedeutung zurückgeben.

0 Kommentare
Hinterlasse einen Kommentar
0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * gekennzeichnet.

2022_Finance-Watch-Team-Member_Ben-Cuzzupe_square_400x400_acf_cropped-252x252
Verfasser*in

Ben Cuzzupe

Ehemaliger Referent für Redaktion und Kommunikation

Über den/die Verfasser*in

Als Referent für Redaktion und Kommunikation unterstützte Ben das Kommunikationsteam bei der Erstellung von Berichten, Inhalten und anderen Medienmaterialien.

Navigation

Ähnliche Artikel

Unser Newsletter

Die wichtigsten Mitteilungen direkt in Ihr Postfach

Das Blog für eine Finanzwirtschaft, die der Gesellschaft dient Newsletter